Entfremdet
© Jan-Hendrik Schmidt
Von
Harald Welzer &
Bernd Sommer
Ein Umriss
Bernd Sommer und Harald Welzer stellen die Gretchenfrage des späten Kapitalismus: Wie hältst du es mit dem Wachstum? Als Triebfedern der Neuproduktfindung können gerade Designer diese Frage nicht unbeantwortet lassen.
Jared Diamond hat in seinem Buch Kollaps das Scheitern von Gesellschaften untersucht. Eine Gemeinsamkeit wiesen alle untersuchten Fälle auf: Die bis zum Kollaps der Überlebensbedingungen angewendeten Strategien zur Sicherung des Lebens und Überlebens waren über Jahrhunderte hinweg erfolgreich gewesen, erwiesen sich aber gerade deshalb unter veränderten Umfeldbedingungen als Falle: Denn als sich etwa auf den Osterinseln infolge von Bodenerosion die Ernteerträge verschlechterten, intensivierten die Insulaner die Bodennutzung – und beschleunigten damit ihre Selbstabschaffung. Dies ist nur eins unter vielen Beispielen, die zeigen, dass Kulturen sehr schlecht darin sind, ihre Erfolgsstrategien und Stressbedingungen zu verändern; in der Regel intensivieren sie sie und rauschen auf diese Weise desto schneller in die Katastrophe.
Gedeih und Verderb
Wem sich dabei Parallelen zur heutigen Wachstumswirtschaft aufdrängen, liegt sicher nicht falsch: Denn das Wachstumskonzept wird ja desto prominenter, je deutlicher die Folgen des Überschreitens der Grenzen des Wachstums werden, die Dennis Meadows und Kollegen schon vor mehr als 40 Jahren recht genau bestimmt haben, ohne dass sich freilich grundlegend etwas am kapitalistischen Metabolismus verändert hätte. Im Gegenteil: Zwischenzeitlich hat sich die kapitalistische Wachstumswirtschaft über den ganzen Planeten verbreitet, weshalb jegliche Grenzen des Wachstums – beim Material- und Energieverbrauch wie bei den Emissions- und Müllmengen – immer radikaler überschritten werden. Trotzdem halten Wissenschaft und Politik, Wirtschaft und Administrationen an genau den Strategien fest, die sie kennen – und schreiben ihnen desto mehr magische Kräfte zu, je deutlicher sie sich als aussichtslos erweisen. Kurz: Sie alle bleiben beim Plan A und wechseln nicht auf einen Plan B. Das ist kein Wunder.
Denn es ist zwar bekannt, wie es auf der Basis einer fossil befeuerten Wachstumswirtschaft zu jenen enormen materiellen und zivilisatorischen Fortschritten gekommen ist, die uns zu den Privilegierten der Welt gemacht haben, aber es existiert einstweilen allenfalls fragmentarisches Wissen darüber, wie sich ein solcher Typ Zivilisation unter Bedingungen aufrechterhalten lässt, in denen der Material- und Energieverbrauch sowie die Emissions- und Müllmengen um den Faktor fünf bis zehn reduziert sind. Vor diesem Hintergrund ist Transformationsdesign zunächst einmal die Heuristik einer reduktiven, zukunftsfähigen Moderne.
Die bisherige Entwicklung moderner Gesellschaften ist grundsätzlich durch eine expansive Dynamik gekennzeichnet – und zwar nach innen wie nach außen. Die Expansionsbewegung „nach außen“ bedarf vor dem Hintergrund von Kolonialisierung sowie anhaltender Globalisierung des Wirtschafts- und Kulturmodells, das vor etwa 250 Jahren in Europa und Nordamerika seinen Ausgang nahm, kaum der weiteren Erläuterung. Aber auch „nach innen“ zeichnen sich diese Gesellschaften durch ungeheure Zuwachsraten in der Güterproduktion und -konsumption aus, damit einhergehend beim Ressourcen- und Energieverbrauch.
Alles. Immer. Jetzt.
Sinnfällig wird das etwa an der gerade getauften Zoe der Schweizer Reederei MSC. Das ist das größte Containerschiff der Welt, es ist 395,4 Meter lang, 59 Meter breit und transportiert 19.224 Container. In diesen 19.224 Containern befinden sich: Smartphones, T-Shirts, Unterhosen, Fernseher, Ersatzteile, Möbel – die Komplettausstattung für die Welt des ALLES IMMER. Zoe, die ausgerechnet nach dem vierjährigen Enkelkind des Gründers der Reederei benannt wurde, wird den Titel des größten Containerschiffs der Welt aber nicht lange tragen; ein größeres, für 22.000 Container, wird bei Samsung in Korea bereits zusammengeschweißt. Zoe repräsentiert pars pro toto die unheilvolle Allianz aus gewachsener Kaufkraft, billiger Transportkapazität, externalisierten Umweltkosten, beständig verkürzten Produktzyklen und hyperkonsumistischer Alltagskultur. Der Konsum von Textilien verdoppelt sich je Dekade, ebenso wie der von Möbeln, Nahrungsmitteln usw. usf. Während man vor fünfzig Jahren in Deutschland durchschnittlich 42 Tage arbeiten musste, um sich ein Fernsehgerät anzuschaffen, sind es heute gerade noch vier; für den Kauf eines Schweinekoteletts musste man zweieinhalb Stunden arbeiten, heute noch eine halbe. Die aufzuwendende Arbeitszeit für den Kauf eines Brotes hat sich halbiert, ebenso wie für den Liter Benzin. Für ein Hähnchen oder ein Stück Butter genügt heute ein Zehntel der Arbeitszeit von 1960. In dieser radikal gesteigerten allgemeinen Kaufkraft infolge immenser Produktivitätssteigerungen liegt begründet, weshalb die Menschen heute weitaus mehr Mittel zum Konsum von immer mehr Dingen zur Verfügung haben, und weshalb gleichzeitig alles nur noch so wenig wert ist, dass es so bald als möglich durch das nächste Modell ersetzt wird.
Entfremdet
© Jan-Hendrik Schmidt
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© Jan-Hendrik Schmidt
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Größer, schneller, weiter
Die Flächenversiegelung schreitet allein in Deutschland mit täglich 70 Hektar genauso voran wie die Autos immer größer, die Fernreisen immer zahlreicher und die Wohnflächen immer größer werden. In einer Kultur, die ihre Wertepräferenz darin hat, von allem immer mehr permanent verfügbar zu haben, übersetzt sich jeder Effizienzgewinn in einen „Rebound“, also in den konsumistischen Einsatz der eingesparten Energie-, Material- oder Geldmenge in ein weiteres Gerät, eine zusätzliche Reise, ein größeres Auto. Eine Wirtschaft, die wesenhaft auf der Generierung von Mehrwert durch Produktivitätssteigerung und Marktexpansion beruht, lässt systematisch auch gar nichts Anderes zu. Sie hat funktional ganz einfach keine Grenze und kann nicht innehalten, bis, wie Max Weber vor einem Jahrhundert formuliert hat, „der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist“. Ein solches System kommt erst zum Innehalten, wenn es keinen Treibstoff mehr hat. Bis dahin aber wächst sein Zerstörungspotenzial kontinuierlich an.
Vor diesem Hintergrund zeichnet sich eine Problemstellung ab, die paradoxe Züge trägt: Die zunehmende Zerstörung von Naturressourcen und damit heutiger und künftiger Überlebensvoraussetzungen erfolgt für einen Hyperkonsum, der das Glück keineswegs erhöht, sondern eher Leiden verursacht – Konsumstress, Freizeitstress, Zeitnot, Burn-out, Fettleibigkeit sind da einschlägige Stichworte. Die zugrunde liegende Ökonomie des Wachstums sorgt also nicht nur für eine beständige Erhöhung der verarbeiteten und gekauften Mengen, sondern auch dafür, dass diese Erhöhung lebenspraktisch immer mehr zur Belastung wird. Die wachsende Zerstörung erzeugt wachsendes Unglück. Die Umkehrung der Richtung von „mehr“ auf „weniger“ scheint daher sinnvoll, um es zurückhaltend zu formulieren. Und: Weniger ist in diesem Fall nicht mehr, sondern weniger.
Die Entwicklung einer Heuristik des Weniger im Kontext moderner Gesellschaften ist vor allem deshalb notwendig, weil alle erfolgreichen Schritte in Richtung einer „Ergrünung“ der kapitalistischen Gesellschaften nichts daran geändert haben, dass seit Jahrzehnten nahezu jedes Jahr einen neuen Rekord im Verbrauch von Energie und Rohstoffen, genauso wie in der Produktion von Müll und Emissionen, gebracht hat. Ein auf Expansion angelegtes Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell scheint weder durch Bewusstseinsveränderungen noch durch Effizienzgewinne die grundlegende Entwicklungsrichtung korrigieren zu können. Empirisch kann man das daran belegen, dass in den mehr als vier Jahrzehnten seit dem Erscheinen der Grenzen des Wachstums sich zwar eine Fülle von Werthaltungen, Lebensstilen, Gesetzen und politischen Präferenzen verändert hat, aber weder eine einzelne noch die Summe dieser Veränderungen dazu geführt hat, dass die naturzerstörerische Steigerungslogik selbst unterbrochen worden wäre. Lediglich punktuell konnten einzelne Sektoren und Regionen „ergrünen“; doch gelang dies vor allem durch die Verlagerung der besonders ressourcen- und emissionsintensiven Industrien in andere Weltteile, in denen seither die Umweltkrisen umso virulenter sind.
Daher kommt dem „Transformationsdesign“, wie wir es verstehen, die Aufgabe zu, nach Ausgängen aus jenem Korridor zu suchen, der die Zivilisierungsrichtung umdreht und Demokratie, Staatlichkeit, Freiheit sukzessive mehr unter Stress geraten lässt. Allerdings finden sich solche Ausgänge nicht leicht, sind doch nicht nur unsere äußeren Lebens- und Überlebensbedingungen, die Infrastrukturen und Institutionen durch das expansive Kulturmodell geprägt, sondern auch die Innenwelten, also die „mentalen Infrastrukturen“, Wahrnehmungsweisen, Gewohnheiten, Routinen, Problemlösungsstrategien, Selbstbilder. „Den Wahn“, so lautet ein Diktum Sigmund Freuds, „erkennt natürlich niemals, wer ihn selbst noch teilt“. Wenn man sich ansieht, wie sehr die Ökologiebewegung und ihre Institutionen – von Forschungsinstituten über Nichtregierungsorganisationen bis zu Parteien – sich sukzessive der expansiven Mainstreamkultur affirmiert haben und fast noch begeisterter von Ressourceneffizienz und (grünem) Wachstum sprechen als Wirtschaftsliberale, wird offenkundig, dass der ökonomischen Geschmeidigkeit des Kapitalismus durchaus auch eine politische entspricht: Wie dieses Wirtschaftssystem jede Gegenbewegung, von der erneuerbaren Energieerzeugung bis zur „Sharing Economy“, inkorporieren kann, so adoptiert sie das gedankliche Inventar grüner Strategien zur Verbesserung der Welt und verwandelt sie in Modernisierungsinfusionen. No way out also?
Einen Versuch ist
es wert
Das kommt auf einen weiteren Versuch an. Ein solcher Versuch sollte aber nicht von der Vorstellung getragen sein, es könne gleich eine „große Transformation“ gelingen oder es gelte, Masterpläne zu entwerfen, die dann in den kommenden Jahrzehnten akribisch umzusetzen sind. Denn „neue“ Verhältnisse, das hat noch jeder tiefgreifende soziale Wandel gezeigt, sind im besten Fall Amalgamierungen von neuen Ordnungstypen und bestehenden Traditionen und Infrastrukturen unterschiedlichster Art. Gesellschaftliche Entwicklungsprozesse sind grundlegend durch Nicht-Linearität und Eigendynamik gekennzeichnet, die – insbesondere in hochkomplexen, modernen Gesellschaften – den Intentionen der Handelnden regelmäßig zuwiderlaufen oder paradoxe Effekte zeitigen. Deshalb ist es angemessener, von segmentären Transformationen unterschiedlicher Art und Wirkung auszugehen, was auch politisch angeraten ist.
Das Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell, das insbesondere im Zuge seiner Globalisierung verhängnisvoll zu werden droht, hat aber nicht nur zu einem historisch ganz unvergleichlichen allgemeinen Wohlstandsniveau geführt, sondern auch zu nicht-materiellen Standards von Zivilisierung, die moderne Gesellschaften heute für unhintergehbar halten: Freiheit, Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Bildungs-, Gesundheits- und Sozialversorgung. Wenn man also die Frage nach notwendigen Transformationen in Wirtschaft und Gesellschaft stellt, geht es um nichts Geringeres als um die Frage, ob sich der zivilisatorische Standard, den die Menschen in den frühindustrialisierten Gesellschaften erreicht haben, bewahren lässt oder nicht. Diese Frage ist nicht trivial, sondern betrifft sehr grundsätzliche Lebensbedingungen. Man muss nur, wie Wolfgang Uchatius geschrieben hat, das Leben eines „typischen Jugendlichen“ am Anfang der industriellen Moderne mit dem heutigen vergleichen- und sieht nicht nur einen schier unglaublichen Anstieg an Besitz von Gegenständen und Produkten, sondern auch an persönlichen Chancen. Statt zur Schule ging der typische Jugendliche Ende des 19. Jahrhunderts in die Fabrik, um für 10 bis 12 Stunden schlecht bezahlt zu arbeiten, und seine durchschnittliche Lebenserwartung betrug nicht 80 Jahre, sondern 45. Dieses Beispiel verdeutlicht schlaglichtartig, dass für die Individuen die vergangenen 100 Jahre nicht allein eine Anhebung der materiellen Standards, sondern eben auch der zivilisatorischen bedeuteten.
Die Herausforderung für ein Transformationsdesign besteht also darin, einem Modus der Vergesellschaftung nachzuspüren, der bei radikal reduziertem Naturverbrauch die Aufrechterhaltung und sogar Weiterentwicklung eben dieser zivilisatorischen Standards ermöglicht. Es geht damit also um die Organisation der Reduktion im Kontext moderner Gesellschaften.
Politisch übersetzt sich das in die Frage, ob man die unter den gegenwärtigen Bedingungen gegebenen Möglichkeiten der Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft proaktiv nutzt oder ob man sich passiv einem Prozess überantwortet, in dem die Handlungsmöglichkeiten unter zunehmendem Stress immer geringer werden, in dem sich das Primat der Ökonomie immer noch weiter zur Geltung bringen kann und der schließlich zu einer Entzivilisierung führen kann, die den Stärkeren mehr Rechte und Überlebenschancen einräumt als den Schwächeren.
Das daraus folgende Paradox lässt sich so formulieren: Wenn der mit der kapitalistischen Wachstumswirtschaft erreichte Zivilisierungsstandard bewahrt werden soll, muss die kapitalistische Wachstumswirtschaft überwunden werden. Politisch steht damit nicht weniger als das Zivilisierungsmodell der expansiven Moderne zur Debatte. Bislang haben wir weder ein theoretisches Modell noch ein empirisches Beispiel für eine moderne Gesellschaft, die die zivilisatorischen Merkmale Freiheit, Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsversorgung bei gegenüber heute stark reduzierten ökologischen Belastungen realisiert. Im Gegenteil: Der Human Development Index zeigt in aller Deutlichkeit, dass Länder, die ein sehr hohes Niveau der menschlichen Entwicklung aufweisen, zugleich einen ökologischen Fußabdruck haben, der weit über einem nachhaltigen Niveau liegt. Umgekehrt ist es um die humanitäre Entwicklung von Ländern, bei denen die Umweltbelastungen pro Kopf ökologische Grenzen nicht überschreiten, gegenwärtig sehr schlecht bestellt. Und es gibt heute kein einziges Land auf der Erde, das sich durch einen sehr hohen menschlichen Entwicklungsstandard und ein nachhaltiges ökologisches Belastungsniveau auszeichnet. Genau darum geht es aber, wenn wir uns eine zukunftsfähige moderne Gesellschaft vorstellen.
Entfremdet
© Jan-Hendrik Schmidt
Aufwand = 0
Transformationsdesign ist also zunächst nichts anderes als die Anwendung von moralischer Fantasie und moralischer Intelligenz und muss sich keineswegs in eine Form von Produktion und Produkt übersetzen. Sein Ergebnis kann im Handeln oder auch im Nichthandeln bestehen. Soziale und individuelle Prozesse von möglichen Frage- und Antwortstellungen gehen dem jeweiligen Ergebnis immer voraus. Im konventionellen Design ist die Reihenfolge genau umgekehrt: Das Ergebnis ist auf alle Fälle ein Produkt, die Frage bleibt lediglich, wie ich es gestalte. In diesem Sinn ist konventionelles Design moralisch und sozial obdachlos, weshalb es auch nicht problematisiert, dass es in der Regel mit einer Aufwandserhöhung einhergeht. Transformationsdesign strebt dagegen nach dem kleinstmöglichen Aufwand. Dieser kann auch bei null liegen.
Transformationsdesign umfasst nach unserer Definition also Anderes als nur das Design von Artefakten – seien es Produkte, Mobilitätsinfrastrukturen, Häuser, Städte usw. Es betrifft die Veränderung kultureller Praktiken des Gebrauchs von Energie, Stoffen und Produkten, und damit auch soziale Kategorien wie Kommunikation, Handel, Konsum, Versorgung. Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich Transformationsdesign auch mit der Geschichte solcher Praktiken, denn ihre kulturelle Genese beschreibt zugleich die Potenziale ihrer Veränderbarkeit.
Transformationsdesign ist reduktives Design. Die Gestaltung einer zukunftsfähigen, reduktiven Moderne ist, wie gesagt, zunächst keine designerische Aufgabe, die sich an die Neu- oder Umgestaltung von Produkten, Häusern, Städten etc. richtet. Die Entwicklung eines Transformationsdesigns ist eine soziale und kulturelle Aufgabe und besteht in übergeordneter Perspektive zunächst darin, demokratisch auszuhandeln, was gutes Leben ist und was es erfordert; und darin, aus dieser Definition gestalterische Schlussfolgerungen zu ziehen. So wie die expansive Kultur der konsumistischen Moderne die beständige Vermehrung von Produkten und die unendliche Ausweitung der Komfortzone als ihre Definition von gutem Leben setzt und daraus die designerische Aufgabe der attraktiven Gestaltung immer neuer Produkte für immer neue Bedürfnisse annimmt, so folgt aus der Definition des guten Lebens in einer reduktiven Kultur das exakte Gegenteil: die Umgestaltung des Vorhandenen, das Verschwinden des Überflüssigen, die Vermeidung von Aufwand, die Reduktion von Energie und Material.
Kann das weg?
Das setzt voraus: Nicht nur andere, sondern weniger Energie. Nicht bessere, sondern weniger Produkte. Keine neuen Aufwände, sondern wiederverwenden, umnutzen, nachnutzen, mitnutzen. Die gegenwärtig debattierten Transformationsstrategien verstehen unter Transformation oft lediglich die Substitution von ökologisch oder energetisch problematischen Artefakten durch effizientere oder gar „erneuerbare“. Diese Substitutionsstrategie suggeriert, dass die Welt der Zukunft denselben Paradigmen von Wachstum und Fortschritt wie die von heute folgt, beides aber mithilfe der Technik „nachhaltig“ gemacht werden kann. Nachhaltig werden soll also nicht die soziale Praxis, sondern das Produkt, mit dem sie sich realisiert. In einem in jeder Hinsicht auf Expansion ausgerichteten Kulturmodell bedeutet der Wechsel einer technischen Strategie aber keinen Richtungswechsel. Im Gegenteil würde die Lösung der Energiefrage im Sinn der Substitution fossiler durch sogenannte erneuerbare Energien dazu führen, dass einem grenzenlosen Extraktivismus Tür und Tor geöffnet würde, weil es weder Grenzen der Bezahl- noch der Verfügbarkeit von Energie mehr gäbe. Wie dem Zauberlehrling gerät auch jede noch so gut gemeinte Korrektur zur Verstärkung unerwünschter Effekte, weshalb Technik keine Lösung ist. Eine reduktive Moderne muss sich tatsächlich in Strategien des Weglassens einüben. Überdies hätte das Design dann nicht mehr die Aufgabe, unablässig hinzukommende Dinge zu gestalten, sondern die, die man nicht braucht, aus der Welt zu schaffen.
Prof. Dr. Harald Welzer ist Mitbegründer und Direktor der gemeinnützigen Stiftung Futurzwei und Honorarprofessor für Transformationsdesign an der Europa-Universität Flensburg, wo er das Norbert Elias Center for Transformation Design & Research (NEC) leitet.
Dr. Bernd Sommer ist Leiter des Bereichs „Klima, Kultur und Nachhaltigkeit“ am Norbert Elias Center for Transformation Design & Research (NEC) der Europa-Universität Flensburg.
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Von
Harald Welzer &
Bernd Sommer
Ein Umriss
Bernd Sommer und Harald Welzer stellen die Gretchenfrage des späten Kapitalismus: Wie hältst du es mit dem Wachstum? Als Triebfedern der Neuproduktfindung können gerade Designer diese Frage nicht unbeantwortet lassen.
Jared Diamond hat in seinem Buch Kollaps das Scheitern von Gesellschaften untersucht. Eine Gemeinsamkeit wiesen alle untersuchten Fälle auf: Die bis zum Kollaps der Überlebensbedingungen angewendeten Strategien zur Sicherung des Lebens und Überlebens waren über Jahrhunderte hinweg erfolgreich gewesen, erwiesen sich aber gerade deshalb unter veränderten Umfeldbedingungen als Falle: Denn als sich etwa auf den Osterinseln infolge von Bodenerosion die Ernteerträge verschlechterten, intensivierten die Insulaner die Bodennutzung – und beschleunigten damit ihre Selbstabschaffung. Dies ist nur eins unter vielen Beispielen, die zeigen, dass Kulturen sehr schlecht darin sind, ihre Erfolgsstrategien und Stressbedingungen zu verändern; in der Regel intensivieren sie sie und rauschen auf diese Weise desto schneller in die Katastrophe.
Gedeih und Verderb
Wem sich dabei Parallelen zur heutigen Wachstumswirtschaft aufdrängen, liegt sicher nicht falsch: Denn das Wachstumskonzept wird ja desto prominenter, je deutlicher die Folgen des Überschreitens der Grenzen des Wachstums werden, die Dennis Meadows und Kollegen schon vor mehr als 40 Jahren recht genau bestimmt haben, ohne dass sich freilich grundlegend etwas am kapitalistischen Metabolismus verändert hätte. Im Gegenteil: Zwischenzeitlich hat sich die kapitalistische Wachstumswirtschaft über den ganzen Planeten verbreitet, weshalb jegliche Grenzen des Wachstums – beim Material- und Energieverbrauch wie bei den Emissions- und Müllmengen – immer radikaler überschritten werden. Trotzdem halten Wissenschaft und Politik, Wirtschaft und Administrationen an genau den Strategien fest, die sie kennen – und schreiben ihnen desto mehr magische Kräfte zu, je deutlicher sie sich als aussichtslos erweisen. Kurz: Sie alle bleiben beim Plan A und wechseln nicht auf einen Plan B. Das ist kein Wunder.
Denn es ist zwar bekannt, wie es auf der Basis einer fossil befeuerten Wachstumswirtschaft zu jenen enormen materiellen und zivilisatorischen Fortschritten gekommen ist, die uns zu den Privilegierten der Welt gemacht haben, aber es existiert einstweilen allenfalls fragmentarisches Wissen darüber, wie sich ein solcher Typ Zivilisation unter Bedingungen aufrechterhalten lässt, in denen der Material- und Energieverbrauch sowie die Emissions- und Müllmengen um den Faktor fünf bis zehn reduziert sind. Vor diesem Hintergrund ist Transformationsdesign zunächst einmal die Heuristik einer reduktiven, zukunftsfähigen Moderne.
Die bisherige Entwicklung moderner Gesellschaften ist grundsätzlich durch eine expansive Dynamik gekennzeichnet – und zwar nach innen wie nach außen. Die Expansionsbewegung „nach außen“ bedarf vor dem Hintergrund von Kolonialisierung sowie anhaltender Globalisierung des Wirtschafts- und Kulturmodells, das vor etwa 250 Jahren in Europa und Nordamerika seinen Ausgang nahm, kaum der weiteren Erläuterung. Aber auch „nach innen“ zeichnen sich diese Gesellschaften durch ungeheure Zuwachsraten in der Güterproduktion und -konsumption aus, damit einhergehend beim Ressourcen- und Energieverbrauch.
Alles. Immer. Jetzt.
Sinnfällig wird das etwa an der gerade getauften Zoe der Schweizer Reederei MSC. Das ist das größte Containerschiff der Welt, es ist 395,4 Meter lang, 59 Meter breit und transportiert 19.224 Container. In diesen 19.224 Containern befinden sich: Smartphones, T-Shirts, Unterhosen, Fernseher, Ersatzteile, Möbel – die Komplettausstattung für die Welt des ALLES IMMER. Zoe, die ausgerechnet nach dem vierjährigen Enkelkind des Gründers der Reederei benannt wurde, wird den Titel des größten Containerschiffs der Welt aber nicht lange tragen; ein größeres, für 22.000 Container, wird bei Samsung in Korea bereits zusammengeschweißt. Zoe repräsentiert pars pro toto die unheilvolle Allianz aus gewachsener Kaufkraft, billiger Transportkapazität, externalisierten Umweltkosten, beständig verkürzten Produktzyklen und hyperkonsumistischer Alltagskultur. Der Konsum von Textilien verdoppelt sich je Dekade, ebenso wie der von Möbeln, Nahrungsmitteln usw. usf. Während man vor fünfzig Jahren in Deutschland durchschnittlich 42 Tage arbeiten musste, um sich ein Fernsehgerät anzuschaffen, sind es heute gerade noch vier; für den Kauf eines Schweinekoteletts musste man zweieinhalb Stunden arbeiten, heute noch eine halbe. Die aufzuwendende Arbeitszeit für den Kauf eines Brotes hat sich halbiert, ebenso wie für den Liter Benzin. Für ein Hähnchen oder ein Stück Butter genügt heute ein Zehntel der Arbeitszeit von 1960. In dieser radikal gesteigerten allgemeinen Kaufkraft infolge immenser Produktivitätssteigerungen liegt begründet, weshalb die Menschen heute weitaus mehr Mittel zum Konsum von immer mehr Dingen zur Verfügung haben, und weshalb gleichzeitig alles nur noch so wenig wert ist, dass es so bald als möglich durch das nächste Modell ersetzt wird.
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Größer, schneller, weiter
Die Flächenversiegelung schreitet allein in Deutschland mit täglich 70 Hektar genauso voran wie die Autos immer größer, die Fernreisen immer zahlreicher und die Wohnflächen immer größer werden. In einer Kultur, die ihre Wertepräferenz darin hat, von allem immer mehr permanent verfügbar zu haben, übersetzt sich jeder Effizienzgewinn in einen „Rebound“, also in den konsumistischen Einsatz der eingesparten Energie-, Material- oder Geldmenge in ein weiteres Gerät, eine zusätzliche Reise, ein größeres Auto. Eine Wirtschaft, die wesenhaft auf der Generierung von Mehrwert durch Produktivitätssteigerung und Marktexpansion beruht, lässt systematisch auch gar nichts Anderes zu. Sie hat funktional ganz einfach keine Grenze und kann nicht innehalten, bis, wie Max Weber vor einem Jahrhundert formuliert hat, „der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist“. Ein solches System kommt erst zum Innehalten, wenn es keinen Treibstoff mehr hat. Bis dahin aber wächst sein Zerstörungspotenzial kontinuierlich an.
Vor diesem Hintergrund zeichnet sich eine Problemstellung ab, die paradoxe Züge trägt: Die zunehmende Zerstörung von Naturressourcen und damit heutiger und künftiger Überlebensvoraussetzungen erfolgt für einen Hyperkonsum, der das Glück keineswegs erhöht, sondern eher Leiden verursacht – Konsumstress, Freizeitstress, Zeitnot, Burn-out, Fettleibigkeit sind da einschlägige Stichworte. Die zugrunde liegende Ökonomie des Wachstums sorgt also nicht nur für eine beständige Erhöhung der verarbeiteten und gekauften Mengen, sondern auch dafür, dass diese Erhöhung lebenspraktisch immer mehr zur Belastung wird. Die wachsende Zerstörung erzeugt wachsendes Unglück. Die Umkehrung der Richtung von „mehr“ auf „weniger“ scheint daher sinnvoll, um es zurückhaltend zu formulieren. Und: Weniger ist in diesem Fall nicht mehr, sondern weniger.
Die Entwicklung einer Heuristik des Weniger im Kontext moderner Gesellschaften ist vor allem deshalb notwendig, weil alle erfolgreichen Schritte in Richtung einer „Ergrünung“ der kapitalistischen Gesellschaften nichts daran geändert haben, dass seit Jahrzehnten nahezu jedes Jahr einen neuen Rekord im Verbrauch von Energie und Rohstoffen, genauso wie in der Produktion von Müll und Emissionen, gebracht hat. Ein auf Expansion angelegtes Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell scheint weder durch Bewusstseinsveränderungen noch durch Effizienzgewinne die grundlegende Entwicklungsrichtung korrigieren zu können. Empirisch kann man das daran belegen, dass in den mehr als vier Jahrzehnten seit dem Erscheinen der Grenzen des Wachstums sich zwar eine Fülle von Werthaltungen, Lebensstilen, Gesetzen und politischen Präferenzen verändert hat, aber weder eine einzelne noch die Summe dieser Veränderungen dazu geführt hat, dass die naturzerstörerische Steigerungslogik selbst unterbrochen worden wäre. Lediglich punktuell konnten einzelne Sektoren und Regionen „ergrünen“; doch gelang dies vor allem durch die Verlagerung der besonders ressourcen- und emissionsintensiven Industrien in andere Weltteile, in denen seither die Umweltkrisen umso virulenter sind.
Daher kommt dem „Transformationsdesign“, wie wir es verstehen, die Aufgabe zu, nach Ausgängen aus jenem Korridor zu suchen, der die Zivilisierungsrichtung umdreht und Demokratie, Staatlichkeit, Freiheit sukzessive mehr unter Stress geraten lässt. Allerdings finden sich solche Ausgänge nicht leicht, sind doch nicht nur unsere äußeren Lebens- und Überlebensbedingungen, die Infrastrukturen und Institutionen durch das expansive Kulturmodell geprägt, sondern auch die Innenwelten, also die „mentalen Infrastrukturen“, Wahrnehmungsweisen, Gewohnheiten, Routinen, Problemlösungsstrategien, Selbstbilder. „Den Wahn“, so lautet ein Diktum Sigmund Freuds, „erkennt natürlich niemals, wer ihn selbst noch teilt“. Wenn man sich ansieht, wie sehr die Ökologiebewegung und ihre Institutionen – von Forschungsinstituten über Nichtregierungsorganisationen bis zu Parteien – sich sukzessive der expansiven Mainstreamkultur affirmiert haben und fast noch begeisterter von Ressourceneffizienz und (grünem) Wachstum sprechen als Wirtschaftsliberale, wird offenkundig, dass der ökonomischen Geschmeidigkeit des Kapitalismus durchaus auch eine politische entspricht: Wie dieses Wirtschaftssystem jede Gegenbewegung, von der erneuerbaren Energieerzeugung bis zur „Sharing Economy“, inkorporieren kann, so adoptiert sie das gedankliche Inventar grüner Strategien zur Verbesserung der Welt und verwandelt sie in Modernisierungsinfusionen. No way out also?
Einen Versuch ist
es wert
Das kommt auf einen weiteren Versuch an. Ein solcher Versuch sollte aber nicht von der Vorstellung getragen sein, es könne gleich eine „große Transformation“ gelingen oder es gelte, Masterpläne zu entwerfen, die dann in den kommenden Jahrzehnten akribisch umzusetzen sind. Denn „neue“ Verhältnisse, das hat noch jeder tiefgreifende soziale Wandel gezeigt, sind im besten Fall Amalgamierungen von neuen Ordnungstypen und bestehenden Traditionen und Infrastrukturen unterschiedlichster Art. Gesellschaftliche Entwicklungsprozesse sind grundlegend durch Nicht-Linearität und Eigendynamik gekennzeichnet, die – insbesondere in hochkomplexen, modernen Gesellschaften – den Intentionen der Handelnden regelmäßig zuwiderlaufen oder paradoxe Effekte zeitigen. Deshalb ist es angemessener, von segmentären Transformationen unterschiedlicher Art und Wirkung auszugehen, was auch politisch angeraten ist.
Das Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell, das insbesondere im Zuge seiner Globalisierung verhängnisvoll zu werden droht, hat aber nicht nur zu einem historisch ganz unvergleichlichen allgemeinen Wohlstandsniveau geführt, sondern auch zu nicht-materiellen Standards von Zivilisierung, die moderne Gesellschaften heute für unhintergehbar halten: Freiheit, Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Bildungs-, Gesundheits- und Sozialversorgung. Wenn man also die Frage nach notwendigen Transformationen in Wirtschaft und Gesellschaft stellt, geht es um nichts Geringeres als um die Frage, ob sich der zivilisatorische Standard, den die Menschen in den frühindustrialisierten Gesellschaften erreicht haben, bewahren lässt oder nicht. Diese Frage ist nicht trivial, sondern betrifft sehr grundsätzliche Lebensbedingungen. Man muss nur, wie Wolfgang Uchatius geschrieben hat, das Leben eines „typischen Jugendlichen“ am Anfang der industriellen Moderne mit dem heutigen vergleichen- und sieht nicht nur einen schier unglaublichen Anstieg an Besitz von Gegenständen und Produkten, sondern auch an persönlichen Chancen. Statt zur Schule ging der typische Jugendliche Ende des 19. Jahrhunderts in die Fabrik, um für 10 bis 12 Stunden schlecht bezahlt zu arbeiten, und seine durchschnittliche Lebenserwartung betrug nicht 80 Jahre, sondern 45. Dieses Beispiel verdeutlicht schlaglichtartig, dass für die Individuen die vergangenen 100 Jahre nicht allein eine Anhebung der materiellen Standards, sondern eben auch der zivilisatorischen bedeuteten.
Die Herausforderung für ein Transformationsdesign besteht also darin, einem Modus der Vergesellschaftung nachzuspüren, der bei radikal reduziertem Naturverbrauch die Aufrechterhaltung und sogar Weiterentwicklung eben dieser zivilisatorischen Standards ermöglicht. Es geht damit also um die Organisation der Reduktion im Kontext moderner Gesellschaften.
Politisch übersetzt sich das in die Frage, ob man die unter den gegenwärtigen Bedingungen gegebenen Möglichkeiten der Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft proaktiv nutzt oder ob man sich passiv einem Prozess überantwortet, in dem die Handlungsmöglichkeiten unter zunehmendem Stress immer geringer werden, in dem sich das Primat der Ökonomie immer noch weiter zur Geltung bringen kann und der schließlich zu einer Entzivilisierung führen kann, die den Stärkeren mehr Rechte und Überlebenschancen einräumt als den Schwächeren.
Das daraus folgende Paradox lässt sich so formulieren: Wenn der mit der kapitalistischen Wachstumswirtschaft erreichte Zivilisierungsstandard bewahrt werden soll, muss die kapitalistische Wachstumswirtschaft überwunden werden. Politisch steht damit nicht weniger als das Zivilisierungsmodell der expansiven Moderne zur Debatte. Bislang haben wir weder ein theoretisches Modell noch ein empirisches Beispiel für eine moderne Gesellschaft, die die zivilisatorischen Merkmale Freiheit, Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsversorgung bei gegenüber heute stark reduzierten ökologischen Belastungen realisiert. Im Gegenteil: Der Human Development Index zeigt in aller Deutlichkeit, dass Länder, die ein sehr hohes Niveau der menschlichen Entwicklung aufweisen, zugleich einen ökologischen Fußabdruck haben, der weit über einem nachhaltigen Niveau liegt. Umgekehrt ist es um die humanitäre Entwicklung von Ländern, bei denen die Umweltbelastungen pro Kopf ökologische Grenzen nicht überschreiten, gegenwärtig sehr schlecht bestellt. Und es gibt heute kein einziges Land auf der Erde, das sich durch einen sehr hohen menschlichen Entwicklungsstandard und ein nachhaltiges ökologisches Belastungsniveau auszeichnet. Genau darum geht es aber, wenn wir uns eine zukunftsfähige moderne Gesellschaft vorstellen.
Entfremdet
© Jan-Hendrik Schmidt
Aufwand = 0
Transformationsdesign ist also zunächst nichts anderes als die Anwendung von moralischer Fantasie und moralischer Intelligenz und muss sich keineswegs in eine Form von Produktion und Produkt übersetzen. Sein Ergebnis kann im Handeln oder auch im Nichthandeln bestehen. Soziale und individuelle Prozesse von möglichen Frage- und Antwortstellungen gehen dem jeweiligen Ergebnis immer voraus. Im konventionellen Design ist die Reihenfolge genau umgekehrt: Das Ergebnis ist auf alle Fälle ein Produkt, die Frage bleibt lediglich, wie ich es gestalte. In diesem Sinn ist konventionelles Design moralisch und sozial obdachlos, weshalb es auch nicht problematisiert, dass es in der Regel mit einer Aufwandserhöhung einhergeht. Transformationsdesign strebt dagegen nach dem kleinstmöglichen Aufwand. Dieser kann auch bei null liegen.
Transformationsdesign umfasst nach unserer Definition also Anderes als nur das Design von Artefakten – seien es Produkte, Mobilitätsinfrastrukturen, Häuser, Städte usw. Es betrifft die Veränderung kultureller Praktiken des Gebrauchs von Energie, Stoffen und Produkten, und damit auch soziale Kategorien wie Kommunikation, Handel, Konsum, Versorgung. Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich Transformationsdesign auch mit der Geschichte solcher Praktiken, denn ihre kulturelle Genese beschreibt zugleich die Potenziale ihrer Veränderbarkeit.
Transformationsdesign ist reduktives Design. Die Gestaltung einer zukunftsfähigen, reduktiven Moderne ist, wie gesagt, zunächst keine designerische Aufgabe, die sich an die Neu- oder Umgestaltung von Produkten, Häusern, Städten etc. richtet. Die Entwicklung eines Transformationsdesigns ist eine soziale und kulturelle Aufgabe und besteht in übergeordneter Perspektive zunächst darin, demokratisch auszuhandeln, was gutes Leben ist und was es erfordert; und darin, aus dieser Definition gestalterische Schlussfolgerungen zu ziehen. So wie die expansive Kultur der konsumistischen Moderne die beständige Vermehrung von Produkten und die unendliche Ausweitung der Komfortzone als ihre Definition von gutem Leben setzt und daraus die designerische Aufgabe der attraktiven Gestaltung immer neuer Produkte für immer neue Bedürfnisse annimmt, so folgt aus der Definition des guten Lebens in einer reduktiven Kultur das exakte Gegenteil: die Umgestaltung des Vorhandenen, das Verschwinden des Überflüssigen, die Vermeidung von Aufwand, die Reduktion von Energie und Material.
Kann das weg?
Das setzt voraus: Nicht nur andere, sondern weniger Energie. Nicht bessere, sondern weniger Produkte. Keine neuen Aufwände, sondern wiederverwenden, umnutzen, nachnutzen, mitnutzen. Die gegenwärtig debattierten Transformationsstrategien verstehen unter Transformation oft lediglich die Substitution von ökologisch oder energetisch problematischen Artefakten durch effizientere oder gar „erneuerbare“. Diese Substitutionsstrategie suggeriert, dass die Welt der Zukunft denselben Paradigmen von Wachstum und Fortschritt wie die von heute folgt, beides aber mithilfe der Technik „nachhaltig“ gemacht werden kann. Nachhaltig werden soll also nicht die soziale Praxis, sondern das Produkt, mit dem sie sich realisiert. In einem in jeder Hinsicht auf Expansion ausgerichteten Kulturmodell bedeutet der Wechsel einer technischen Strategie aber keinen Richtungswechsel. Im Gegenteil würde die Lösung der Energiefrage im Sinn der Substitution fossiler durch sogenannte erneuerbare Energien dazu führen, dass einem grenzenlosen Extraktivismus Tür und Tor geöffnet würde, weil es weder Grenzen der Bezahl- noch der Verfügbarkeit von Energie mehr gäbe. Wie dem Zauberlehrling gerät auch jede noch so gut gemeinte Korrektur zur Verstärkung unerwünschter Effekte, weshalb Technik keine Lösung ist. Eine reduktive Moderne muss sich tatsächlich in Strategien des Weglassens einüben. Überdies hätte das Design dann nicht mehr die Aufgabe, unablässig hinzukommende Dinge zu gestalten, sondern die, die man nicht braucht, aus der Welt zu schaffen.
Prof. Dr. Harald Welzer ist Mitbegründer und Direktor der gemeinnützigen Stiftung Futurzwei und Honorarprofessor für Transformationsdesign an der Europa-Universität Flensburg, wo er das Norbert Elias Center for Transformation Design & Research (NEC) leitet.
Dr. Bernd Sommer ist Leiter des Bereichs „Klima, Kultur und Nachhaltigkeit“ am Norbert Elias Center for Transformation Design & Research (NEC) der Europa-Universität Flensburg.
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