Ninebot by Segway, Type ONE S2
© Segway
Von
Helge Oder
Eine kleine Typologie der
Mikromobilität
Light Electric Vehicles, Elektrokleinfahrzeuge, Personal Mobility Devices, Last Mile Vehicles – hinter der Vielfalt an Bezeichnungen verbirgt sich eine noch größere Fülle an Mobilitätsprodukten, die eine Gewichtsklasse unterhalb der nur bedingt zukunftsfähigen Automobilität liegen. Für Produktdesigner eröffnet sich hier ein hoch innovatives Entwicklungsmilieu.
System, Konzept, Objekt
Die Mobilität von morgen beschäftigt derzeit zahlreiche Akteure aus Wirtschaft und Forschung. Dabei sind zwei Vorgehensweisen zu unterscheiden: einerseits die Future Labs, in denen mittel- und langfristig gedachte systemische Ansätze und großformatige Mobilitätsszenarien entwickelt werden. Dieses Vorgehen wirft explizit Fragen auf – von Stadtplanung, digitaler Infrastruktur, Partizipation und neuen Geschäftsmodellen. Vom anderen Ende her arbeitet die Industrie an Concept Cars, die zeigen sollen, wie die (Auto-)Mobilität von morgen aussehen kann. Die grundlegenden Implikationen und Problemszenarien der Automobilität als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen werden in diesem zweiten Modell nicht ausreichend thematisiert.
Im Umgang mit der konkreten Gestaltung der Objekte sind beide Modelle ungenügend. In der langfristigen Planung der Future Labs kommen diese Aspekte nur rudimentär vor. Im Bereich der Concept Cars wiederum wird eine sehr spezifische Vision von kurzfristig gedachter Zukunft vergegenständlicht. Hohe Innovationskosten sorgen dafür, dass in der Automobilbranche vor allem auf der Ebene von Technik und Objekt und möglichst risikoarm in kleinen Schritten innoviert wird.
Innovation von oben
und unten
Dass es auch anders geht, zeigt eine Innovationslandschaft, die in den letzten Jahren rund um das Themenfeld der sogenannten Light Electric Vehicles (LEV) entstanden ist. Diese der EG-Fahrzeugklasse L zugehörigen Fahrzeuge sind „unterhalb“ der klassischen Personenkraftwagen angesiedelt und haben sich aus mehreren Gründen zu einem Spielplatz kostengünstiger Innovation entwickelt. Hierzu trägt entscheidend bei, dass es vergleichsweise leicht ist, eine Betriebserlaubnis für Fahrzeuge im Bereich der Kleinspannung von maximal 50 Volt (Wechselstrom) zu erhalten.
Bereits 2009 gründete Bosch den Ableger eBike Systems, um in die Entwicklung von Elektromotoren, Steuerungskomponenten und integrierten Systemen für Elektrofahrräder zu investieren. 2012 setzte sich das Start-up als europäischer Marktführer in diesem Segment durch. Ein Beispiel typischer Top-down-Innovation, durch die ein relativ neuer Nutzungs- und Entwicklungskontext weiter geöffnet wird. Die preiswerte Verfügbarkeit technisch komplexer, ausgereifter Antriebskomponenten ermöglicht in der Folge verschiedenen Akteuren die Realisierung unterschiedlichster Fahrzeuge.
Ein Blick in die Geschichte des Motorrads zeigt, wie eine ähnlich heterogene Entwicklungs- und Gründungslandschaft in den 1910er- und 1920er-Jahren zu einer Massenmotorisierung mit im Vergleich zum Pkw preiswerteren Krafträdern führte. Unzählige kleinere Unternehmen fertigten und vertrieben Motorräder; oft wurden hierfür Fahrradrahmen mit Verbrennungsmotoren aufgerüstet. Parallel dazu etablierten sich auch damals schnell einige wenige Unternehmen, die sich auf komplexe Motoren- und Antriebstechnik spezialisiert hatten. Analog zum Motorrad der 1920er-Jahre sind die bekanntesten LEVs heute E-Bikes, besonders in der Ausprägung des Pedelec. Sie schließen nahtlos an Mobilitätsgewohnheiten und Infrastrukturen an, die durch das muskelkraftgetriebene Fahrrad bereits seit Langem implementiert sind.
Wie neuartige Typen von Fahrzeugen jenseits technologiegetriebener Top-down-Strategien entstehen können, zeigt das Beispiel des Mountainbikes, einer Fahrradgattung, der gegenwärtig ein großer Teil aller weltweit verkauften Fahrräder zuzurechnen ist. In den 1960er- und 1970er-Jahren bildete sich in Kalifornien eine sehr aktive Gemeinschaft von Radsportlern heraus, die es sich zum Ziel setzte, möglichst schnell und spektakulär steile Hänge herunterzuradeln. Mit den damals verfügbaren Fahrrädern gab es regelmäßig Bruch, der Verschleiß an Material war enorm. Geschickte Bastler und Tüftler begannen daher, aus stabileren und verstärkten Rahmen und Ballonreifen robustere Fahrräder zu bauen. Diese „Klunkerz“ genannten Fahrzeuge funktionierten gut und die Bedürfnisse nach neuen und differenzierten Formen der sportlichen Nutzung entwickelten sich in Wechselwirkung mit neuen Detaillösungen und ständigen Verbesserungen der Objekte – ein klassisches Beispiel für Innovation von unten nach oben.
Adam
© Springtime Design
Adam
© Springtime Design
Adam
© Springtime Design
Adam aus Amsterdam
Das Elektrofahrrad Adam des Büros Springtime ist eine Designstudie, die auf die Bedürfnisse von Studierenden ausgerichtet sein soll. Der Akku ist am Lenker angebracht, lässt sich entnehmen und kann als portabler Lautsprecher sowie als Ladestation für andere Geräte genutzt werden.
Typologie, Image, Identität
Das sportliche und zugleich verwegene Image des Mountainbikes mit seiner aggressiven, wuchtigen Ästhetik stieß am Fahrradmarkt auf positive Resonanz. Sowohl die markante Erscheinung als auch die neuen Nutzungsangebote, die dieser robuste Fahrradtyp mit sich brachte, veränderten das Fahrgefühl und die Mobilitätsgewohnheiten. Nicht nur schweres Gelände ist mit diesen Rädern zu erschließen, auch der urbane Raum kann auf eine neue Weise erobert werden. Die „innere Landkarte“ des verfügbaren Stadtraums verändert sich, das sportliche Querfeldeinfahren durch den Großstadtdschungel wird zum neuen Identitätsangebot für Radfahrer.
Mit seinem Image fernab von Sport und Geschwindigkeit zeigt der Vespa-Roller als urbane Ikone und Archetyp des motorisierten Zweirades, dass es auch ganz anders geht. Hier stehen Entdeckungslust und lässige Lebensart im Mittelpunkt der Nutzung und Rezeption des Fahrzeugs. Beim Fahrrad sind es die Hollandräder, Cruiser und Trekkingbikes, die zum rollenden Flanieren einladen und den geschwindigkeitsbetonten Mountainbikes und Rennrädern in der Image-Typologie gegenüberstehen.
Welche Archetypen bilden sich also bei den Elektroleichtfahrzeugen heraus? Und gibt es originär in der E-Mobilität begründete Identitätsangebote? Die Images von Produkten und Nutzungsgewohnheiten, die sie vermittelnden Codes und Symbole werden beständig neu kreiert und verhandelt. Mittels Trendscouting versuchen Hersteller, subkulturelle Strömungen zu erkennen und in ihren Produkten und Kampagnen zu verwerten. Das geschieht auch durch die aktive Einbindung der Kunden in sozialen Netzwerken mittels Social Commerce. Das wechselseitige Spiel der Symbolproduktion zwischen Anbietern und Nutzern wird auch die Kleinstmobilität weiter prägen.
Die Frage lautet nicht: „Was hast du?“, sondern: „Wie lebst du?“ Die sich entwickelnden urbanen Lebensstile sind durch die stetige Suche nach neuen Möglichkeiten der individuellen und gemeinschaftlichen Existenz geprägt. Doch auch Strukturen des steten Wandels und deren Funktions- und Identitätsangebote bedürfen verlässlicher Grundbestände materieller und zeichenhafter Natur. Eine dieser Grundtendenzen in der Mobilität ist die Bedeutungsverschiebung vom Besitz zum Nutzen. Statt des Objekts selbst wollen immer mehr Menschen einfach Zugang zu einem Netzwerk aus Angeboten, zu einer einfach handhabbaren Collage aus Fahrzeugen, Equipment, Serviceangeboten, Kommunikation und Infrastruktur.
Das Image von Mobilität wird in diesen urbanen Kulturen weniger direkt vom einzelnen Fahrzeug geprägt sein, sondern vielmehr von neuen Mobilitätstypen und Gewohnheiten. LEVs werden in diesem multimodalen Zusammenspiel von wachsender Bedeutung sein. Die Aufgabe des Designs liegt in der Öffnung und Erschließung dieses vielschichtigen Mobilitätsraumes und in der steten Reflexion und Pointierung der kulturellen Vorgänge – durch Identitätsangebote und gebrauchsfähige Produkte. Anforderungen an Form und Funktion, Image und Identität müssen als attraktive Angebote in Einklang gebracht und in ein System zukunftsfähiger Mobilitätskonzepte integriert werden.
Elmoto HR-2 Evo
© Elmoto
Scrooser
© iFPE GmbH/scoop id
Bullitt mit Holzbox
© Larry vs Harry
Das E-Bike Elmoto HR-2 Evo kommt aus Stuttgart und ist wahlweise mit einer Höchstgeschwindigkeit von 25 und 45 km/h zu haben. 3.000 Stück wurden seit 2009 verkauft. Im Moment ist es ruhig um die Firma. 2018 soll das E-Bike in einer neuen Version erscheinen.
Der Scrooser aus Dresden ist ein elektrischer Tretroller für Erwachsene, fährt bis zu 25 km/h und ist ab 4.500 Euro zu haben. Neben der Beschleunigung per Lenkergriff bietet das Fahrzeug auch einen sogenannten Impulsantrieb, eine Form der Trittverstärkung, die laut Hersteller im Straßenverkehr jedoch nicht zulässig ist.
Die Cargobikes des Kopenhagener Herstellerduos Larry vs Harry sind vor allem unter dem Produktnamen Bullitt bekannt und stehen in der Tradition des dänischen Long-John-Rads aus den 1920er-Jahren. Das Bullitt zeichnet sich durch seinen leichten und schmalen Rahmen aus und kostet ab ca. 2.400 Euro aufwärts, je nach Ausstattung, elektrisch etwa das Doppelte.
Formensprache
Beim Objekt selbst setzt sich die Tendenz zu formaler Eigenständigkeit und Ausdifferenzierung weiter fort. Das Mountainbike entwickelt sich zu noch höherer formaler Geschlossenheit. Herstellungsverfahren wie das Innenhochdruckumformen erlauben asymmetrische Rahmenbauteile mit optimierten Steifigkeits- und Krafteinleitungseigenschaften. Die Anmutung wird kompakter, der Eindruck eines aus Einzelelementen assemblierten Konstrukts weicht dem einer Monoform aus einem Guss. Bauelemente wie Akkus und Antriebsblöcke werden zunehmend in diese Form integriert. Ähnlich wie beim klassischen Automotive Design gibt es auch hier die Tendenz, insbesondere Kraft, Dynamik und Geschwindigkeit als Wesensmerkmale übermäßig herauszustellen und damit entsprechende Nutzungsimplikationen zu betonen. Das Fahrzeug soll schon im Stand schnell wirken und das Fahrerlebnis auf visueller Ebene vorwegnehmen.
Ein anderer Trend, Bike Packing genannt, zelebriert hingegen das Additive und Assemblierte. Packtaschen, Lederriemen und edle Sättel kontrastieren mit ausgefallenen Rahmenkonstruktionen und technischen Funktionselementen. Doch auch ein derart aus Komponenten zusammengestelltes Fahrzeug kann unter ästhetischen Gesichtspunkten ein abgestimmtes Gesamtbild ergeben.
Akkukonzepte wie die Energy Tube oder der Radnabenmotor Copenhagen Wheel harmonieren in einer offenen systemischen Rahmung von Elementen. Wesenhaftigkeit und Handlungsofferte sind in dieser Ästhetik gleichermaßen verkörpert und eröffnen Freiräume zur Aneignung. Der Electric Cargo Scooter Feddz behandelt den Akku als Gepäck. Er wird zusammen mit möglichen weiteren Lasten vom Rahmen eingefasst und mit Riemen gesichert. Fahrzeugstruktur, technische Elemente und zusätzliche Ausrüstung bilden eine Assemblage. Technische Systeme und Stileigenschaften befinden sich in steter funktionaler und ästhetischer Spannung. Gleiches gilt für die Frage, welche dieser Bestandteile besessen und welche nur genutzt werden. Hier geht es nicht nur um das gestalterische Ausloten dieses Spannungsfeldes, sondern auch um das Neudenken von Objektkategorien, Geschäftsmodellen und Wertschöpfungsketten.
Spieltrieb
Der BMW-C1-Roller, ein mit hohen Kosten in eine Marktlücke hineinkonzipierter, innovativer Hybrid aus Automobil und Motorroller, fand nicht die Marktresonanz, die der Entwicklungsaufwand hätte erwarten lassen. Etwas erfolgreicher startete 2012 der als LEV der Quad-Kategorie konzipierte Renault Twizy. Obwohl das Fahrzeug für die eingeschränkten Nutzungsszenarien, die es ermöglicht, schon relativ groß ist, überzeugt es einerseits mit der Vertrautheit des vierrädrigen Automobils, andererseits mit einer eigenständigen, von der klassischen Monoform abrückenden Optik.
Etwa zeitgleich begannen kuriose und flippige elektrisch getriebene Kleinstfahrzeuge erst vereinzelt, dann immer häufiger im Stadtbild der Metropolen aufzutauchen. Wichtigster Vorreiter war hier der zunächst gewöhnungsbedürftige Segway, an dem sich das vorherrschende Verständnis von Fahrzeugen und Fahrgewohnheit reiben konnte. Die gängige Nutzung für Stadtrundfahrten in Gruppen erwies sich als wenig imageträchtig. Im Hoverboard fand das vom Segway eingeführte Konzept der durch ein Gyroskop stabilisierten elektrischen Fortbewegung auf einer Achse seine konsequente Fortentwicklung im unteren Preissegment. Ab 250 Euro ist dieses massenhaft in China produzierte Spaßgefährt zu haben und landet – dem Preis angemessen – ebenso schnell auf dem Elektroschrott. Verschiedene elektrifizierte Einräder runden die Sparte der lagestabilisierten Segway-Derivate ab. Als Ableger des ewig coolen Skateboard-Sports bietet das elektrische Longboard bei überschaubarem technischem Aufwand die wohl vergleichsweise lässigste Performance.
Dabei ist ein Muster erkennbar, das viele dieser Fahrzeuge verbindet: Sie entstanden nicht als ernsthafte Alternative zu gewohnten Formen von Mobilität, sondern als Spaß- und Sportgerät. Dieser Vorgang ist übertragbar: Während das erwähnte Hoverboard in erster Linie die motorische Koordination auf spielerische Weise herausfordert, bieten andere LEVs dem Benutzer die Möglichkeit, mit ebendieser Leichtigkeit und Gelassenheit auch neue Vorlieben für Mobilität im Alltag zu erkunden. Erleichtert wird dies durch die Verfügbarkeit von Mietkonzepten – durch Nutzen statt Besitzen. In diesem Sinne betreibt LEV-Vorreiter Bosch seit Ende 2016 das Sharing-Start-up Coup, welches moderne Elektroscooter per Smartphone-App vermietet. In Berlin sind inzwischen über Tausend solcher Roller von Bosch und Konkurrent Emmy auf der Straße.
Doch auch gewöhnliche Pedelecs und verschiedene Lastenfahrräder sind über Mietservices in Deutschlands Metropolen zu haben. Das Spektrum der aktuell verfügbaren LEVs umfasst kleine, preiswerte Spaßmobile, konventionelle Fahrradderivate sowie komplexere und für den Personen- und Lastentransport leistungsfähigere Fahrzeuge wie Scooter, Lastenfahrräder, Quads, E-Caddys und andere vierrädrige Fahrzeuge. Coolness und Sportlichkeit der kleineren Fahrzeuge treffen auf leistungsfähige aber wenig imageträchtige größere Elektromobile. Bottom-up- trifft auf Top-down-Entwicklung.
Copenhagen Bike Sharing System
© RAFAA
Copenhagen Bike Sharing System
© RAFAA
Copenhagen Bike Sharing System
© RAFAA
Copenhagen Bike Sharing System
© RAFAA
Wunsch
Kopenhagen ist Weltfahrradstadt und stolz darauf. Die Hälfte der Einwohner fährt mit dem Rad zur Arbeit und das bei jedem Wetter. Um Fahrräder jederzeit verfügbar zu machen und dennoch „unsichtbar“ in das Stadtbild zu integrieren, entwarf der Schweizer Architekt Rafael Schmidt 2011 ein futuristisches Bike Sharing System. Ästhetisch eine zweifelsohne elegante Lösung, die noch dazu durch unterirdische Lagerung auch auf das Kopenhagen-spezifische Problem eingeht, dass insbesondere für Fahrräder die Parkplätze knapp werden.
Danish public bicycle
© wikimedia.org
Wirklichkeit
Für den ganz realen Einsatz in der Stadt waren damals und heute Kompromisse nötig, die zwischen ansehnlicher Form und Praktikabilität rangieren. 1995 etablierte Kopenhagen als erste Großstadt dauerhaft ein System für Leihfahrräder. Diese waren teils werbefinanziert und man konnte sie bis 2012 kostenlos gegen Münzpfand borgen. Zum Schutz gegen Vandalismus waren die Räder besonders robust gestaltet. Dennoch fühlten sich viele Nutzer nicht zu Sorgfalt verpflichtet und es gab viel Schwund.
Row of white rental Go-bikes
© hans engbers/Shutterstock.com
Seit 2013 gibt es einen neuen Typ des Bycykels. Wieder sind die Dänen führend, denn die Räder verfügen heute standardmäßig über Elektroantrieb, Touchpad und GPS-Navigation. Inzwischen wird per Kreditkarte eine Miete fällig, Schwund ist seitdem kein Problem mehr, die Installation des neuen Systems war allerdings so aufwendig, dass die ursprüngliche Betreiberfirma dabei bankrott gegangen ist. Die Nachfolgeorganisation wird von der Stadt finanziert und anders als in anderen Städten sind die Leihräder werbefrei.
Objekt und Kontext
Woran es bei den „leistungsfähigeren“ größeren Fahrzeugen im Vergleich zu den sportlich konnotierten Gefährten oft noch mangelt, sind eine eigenständige Ästhetik und Identität. Das ändert sich langsam. In Metropolen hat sich das elektrifizierte Lastenfahrrad vom Typ Long John (und nicht etwa der Renault Twizy) als identitätsstiftendes Statussymbol durchgesetzt. Es besticht durch eine archetypische und vergleichsweise dynamische Erscheinung. Unter dem Markennamen Bullitt vertreibt das dänische Label Larry vs Harry seit einigen Jahren erfolgreich derartige Lastenräder. Gut gestaltete modulare Anbauteile und Lastenboxen, angeboten von einer Vielzahl von Herstellern, runden das Image eines urbanen Alleskönners ab. Die Benutzung erfordert zudem einiges an Geschick und Gewöhnung. Dieses Können und dessen Anerkennung sind Bestandteil des positiven Images. Die Nutzung eines solchen Rads ist Ausdruck eines Phasenübergangs weg von automobiler Dominanz. Der Stadtraum wird zu einer Spielwiese, auf der unternehmerisch relativ gefahrlos neuartige, leistungsfähige Formen der Fortbewegung erschlossen werden können. Letztlich geht es um die Ausweitung alternativer Fortbewegungsformen aus der Nische hinaus und hin zu neuen Standards.
Nicht immer passen die neuartigen Fahrzeuge zu etablierten Nutzungsumfeldern und Infrastrukturen. An der HTW Dresden wurde im Rahmen eines Designkritik-Projekts das bedingt geländegängige E-Bike Elmoto untersucht. Die pedallose Kreuzung aus Mountainbike und Enduro-Geländemotorrad irritierte zunächst durch ihren hybriden Charakter: Es war mit 45 Stundenkilometern Höchstgeschwindigkeit für die Straße gefühlt zu langsam und zu klein und für den Radweg zu schnell und zu wuchtig. Bei weiteren Tests eröffnete das Zweirad jedoch neue Mobilitätsgewohnheiten, wie etwa die tägliche Fahrt vom dörflichen Umland in die Innenstadt Dresdens. Dabei dienten einerseits Feldwege abseits der Straße als Abkürzung, andererseits konnten Teile der Strecke bequem mit dem E-Bike in der S-Bahn zurückgelegt werden. Auch das Beispiel Elmoto zeigt, dass die Entwicklung neuer Fahrzeuge nicht zwingend von großen Unternehmen kommen muss. Designer sind in Start-ups präsent und treiben eigene Entwicklungen in Kooperationsnetzwerken voran. Die Firma iFPE GmbH brachte 2014 den vom Dresdner Designbüro scoop id gestalteten elektrischen Roller Scrooser auf den Markt. Er stellt eine verkehrstaugliche Interpretation des klassischen Kinderrollers dar.
Dass es ganz ohne Spielregeln nicht geht, zeigt ein aktuelles Beispiel aus China. Pendler nutzen die seit rund einem Jahr von mehreren Start-ups preiswert und massenhaft angebotenen Leihfahrräder auf dem sogenannten „letzten Kilometer“ bis zur ÖPNV-Station. Fahrradberge vor den Metrostationen Pekings sind die Folge. Die Antizipation und vorsichtige Auslotung solcher nicht vorhersehbarer Effekte sind Bestandteil des Entwicklungsprozesses.
Helge Oder ist gelernter Goldschmied und hat Produktgestaltung in Dresden studiert. Von 2010 bis 2014 lehrte er als künstlerischer Mitarbeiter an der Bauhaus-Universität Weimar im Bereich Material und Umwelt. In seinem Promotionsvorhaben an der BUW erforscht er anhand experimenteller Innovationsprojekte die Autonomie des Entwerfens in offenen Entwicklungsprozessen. Begleitet wird seine Entwurfs- und Forschungstätigkeit durch Lehre, Workshops und publizistische Tätigkeit rund um das Thema Design und Innovation. 2014 bis 2016 war er Gastprofessor für Designtheorie an der HTW Dresden.
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Ninebot by Segway, Type ONE S2
© Segway
Von
Helge Oder
Eine kleine Typologie der
Mikromobilität
Light Electric Vehicles, Elektrokleinfahrzeuge, Personal Mobility Devices, Last Mile Vehicles – hinter der Vielfalt an Bezeichnungen verbirgt sich eine noch größere Fülle an Mobilitätsprodukten, die eine Gewichtsklasse unterhalb der nur bedingt zukunftsfähigen Automobilität liegen. Für Produktdesigner eröffnet sich hier ein hoch innovatives Entwicklungsmilieu.
System, Konzept, Objekt
Die Mobilität von morgen beschäftigt derzeit zahlreiche Akteure aus Wirtschaft und Forschung. Dabei sind zwei Vorgehensweisen zu unterscheiden: einerseits die Future Labs, in denen mittel- und langfristig gedachte systemische Ansätze und großformatige Mobilitätsszenarien entwickelt werden. Dieses Vorgehen wirft explizit Fragen auf – von Stadtplanung, digitaler Infrastruktur, Partizipation und neuen Geschäftsmodellen. Vom anderen Ende her arbeitet die Industrie an Concept Cars, die zeigen sollen, wie die (Auto-)Mobilität von morgen aussehen kann. Die grundlegenden Implikationen und Problemszenarien der Automobilität als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen werden in diesem zweiten Modell nicht ausreichend thematisiert.
Im Umgang mit der konkreten Gestaltung der Objekte sind beide Modelle ungenügend. In der langfristigen Planung der Future Labs kommen diese Aspekte nur rudimentär vor. Im Bereich der Concept Cars wiederum wird eine sehr spezifische Vision von kurzfristig gedachter Zukunft vergegenständlicht. Hohe Innovationskosten sorgen dafür, dass in der Automobilbranche vor allem auf der Ebene von Technik und Objekt und möglichst risikoarm in kleinen Schritten innoviert wird.
Innovation von oben
und unten
Dass es auch anders geht, zeigt eine Innovationslandschaft, die in den letzten Jahren rund um das Themenfeld der sogenannten Light Electric Vehicles (LEV) entstanden ist. Diese der EG-Fahrzeugklasse L zugehörigen Fahrzeuge sind „unterhalb“ der klassischen Personenkraftwagen angesiedelt und haben sich aus mehreren Gründen zu einem Spielplatz kostengünstiger Innovation entwickelt. Hierzu trägt entscheidend bei, dass es vergleichsweise leicht ist, eine Betriebserlaubnis für Fahrzeuge im Bereich der Kleinspannung von maximal 50 Volt (Wechselstrom) zu erhalten.
Bereits 2009 gründete Bosch den Ableger eBike Systems, um in die Entwicklung von Elektromotoren, Steuerungskomponenten und integrierten Systemen für Elektrofahrräder zu investieren. 2012 setzte sich das Start-up als europäischer Marktführer in diesem Segment durch. Ein Beispiel typischer Top-down-Innovation, durch die ein relativ neuer Nutzungs- und Entwicklungskontext weiter geöffnet wird. Die preiswerte Verfügbarkeit technisch komplexer, ausgereifter Antriebskomponenten ermöglicht in der Folge verschiedenen Akteuren die Realisierung unterschiedlichster Fahrzeuge.
Ein Blick in die Geschichte des Motorrads zeigt, wie eine ähnlich heterogene Entwicklungs- und Gründungslandschaft in den 1910er- und 1920er-Jahren zu einer Massenmotorisierung mit im Vergleich zum Pkw preiswerteren Krafträdern führte. Unzählige kleinere Unternehmen fertigten und vertrieben Motorräder; oft wurden hierfür Fahrradrahmen mit Verbrennungsmotoren aufgerüstet. Parallel dazu etablierten sich auch damals schnell einige wenige Unternehmen, die sich auf komplexe Motoren- und Antriebstechnik spezialisiert hatten. Analog zum Motorrad der 1920er-Jahre sind die bekanntesten LEVs heute E-Bikes, besonders in der Ausprägung des Pedelec. Sie schließen nahtlos an Mobilitätsgewohnheiten und Infrastrukturen an, die durch das muskelkraftgetriebene Fahrrad bereits seit Langem implementiert sind.
Wie neuartige Typen von Fahrzeugen jenseits technologiegetriebener Top-down-Strategien entstehen können, zeigt das Beispiel des Mountainbikes, einer Fahrradgattung, der gegenwärtig ein großer Teil aller weltweit verkauften Fahrräder zuzurechnen ist. In den 1960er- und 1970er-Jahren bildete sich in Kalifornien eine sehr aktive Gemeinschaft von Radsportlern heraus, die es sich zum Ziel setzte, möglichst schnell und spektakulär steile Hänge herunterzuradeln. Mit den damals verfügbaren Fahrrädern gab es regelmäßig Bruch, der Verschleiß an Material war enorm. Geschickte Bastler und Tüftler begannen daher, aus stabileren und verstärkten Rahmen und Ballonreifen robustere Fahrräder zu bauen. Diese „Klunkerz“ genannten Fahrzeuge funktionierten gut und die Bedürfnisse nach neuen und differenzierten Formen der sportlichen Nutzung entwickelten sich in Wechselwirkung mit neuen Detaillösungen und ständigen Verbesserungen der Objekte – ein klassisches Beispiel für Innovation von unten nach oben.
Adam
© Springtime Design
Adam
© Springtime Design
Adam
© Springtime Design
Adam aus Amsterdam
Das Elektrofahrrad Adam des Büros Springtime ist eine Designstudie, die auf die Bedürfnisse von Studierenden ausgerichtet sein soll. Der Akku ist am Lenker angebracht, lässt sich entnehmen und kann als portabler Lautsprecher sowie als Ladestation für andere Geräte genutzt werden.
Typologie, Image, Identität
Das sportliche und zugleich verwegene Image des Mountainbikes mit seiner aggressiven, wuchtigen Ästhetik stieß am Fahrradmarkt auf positive Resonanz. Sowohl die markante Erscheinung als auch die neuen Nutzungsangebote, die dieser robuste Fahrradtyp mit sich brachte, veränderten das Fahrgefühl und die Mobilitätsgewohnheiten. Nicht nur schweres Gelände ist mit diesen Rädern zu erschließen, auch der urbane Raum kann auf eine neue Weise erobert werden. Die „innere Landkarte“ des verfügbaren Stadtraums verändert sich, das sportliche Querfeldeinfahren durch den Großstadtdschungel wird zum neuen Identitätsangebot für Radfahrer.
Mit seinem Image fernab von Sport und Geschwindigkeit zeigt der Vespa-Roller als urbane Ikone und Archetyp des motorisierten Zweirades, dass es auch ganz anders geht. Hier stehen Entdeckungslust und lässige Lebensart im Mittelpunkt der Nutzung und Rezeption des Fahrzeugs. Beim Fahrrad sind es die Hollandräder, Cruiser und Trekkingbikes, die zum rollenden Flanieren einladen und den geschwindigkeitsbetonten Mountainbikes und Rennrädern in der Image-Typologie gegenüberstehen.
Welche Archetypen bilden sich also bei den Elektroleichtfahrzeugen heraus? Und gibt es originär in der E-Mobilität begründete Identitätsangebote? Die Images von Produkten und Nutzungsgewohnheiten, die sie vermittelnden Codes und Symbole werden beständig neu kreiert und verhandelt. Mittels Trendscouting versuchen Hersteller, subkulturelle Strömungen zu erkennen und in ihren Produkten und Kampagnen zu verwerten. Das geschieht auch durch die aktive Einbindung der Kunden in sozialen Netzwerken mittels Social Commerce. Das wechselseitige Spiel der Symbolproduktion zwischen Anbietern und Nutzern wird auch die Kleinstmobilität weiter prägen.
Die Frage lautet nicht: „Was hast du?“, sondern: „Wie lebst du?“ Die sich entwickelnden urbanen Lebensstile sind durch die stetige Suche nach neuen Möglichkeiten der individuellen und gemeinschaftlichen Existenz geprägt. Doch auch Strukturen des steten Wandels und deren Funktions- und Identitätsangebote bedürfen verlässlicher Grundbestände materieller und zeichenhafter Natur. Eine dieser Grundtendenzen in der Mobilität ist die Bedeutungsverschiebung vom Besitz zum Nutzen. Statt des Objekts selbst wollen immer mehr Menschen einfach Zugang zu einem Netzwerk aus Angeboten, zu einer einfach handhabbaren Collage aus Fahrzeugen, Equipment, Serviceangeboten, Kommunikation und Infrastruktur.
Das Image von Mobilität wird in diesen urbanen Kulturen weniger direkt vom einzelnen Fahrzeug geprägt sein, sondern vielmehr von neuen Mobilitätstypen und Gewohnheiten. LEVs werden in diesem multimodalen Zusammenspiel von wachsender Bedeutung sein. Die Aufgabe des Designs liegt in der Öffnung und Erschließung dieses vielschichtigen Mobilitätsraumes und in der steten Reflexion und Pointierung der kulturellen Vorgänge – durch Identitätsangebote und gebrauchsfähige Produkte. Anforderungen an Form und Funktion, Image und Identität müssen als attraktive Angebote in Einklang gebracht und in ein System zukunftsfähiger Mobilitätskonzepte integriert werden.
Elmoto HR-2 Evo
© Elmoto
Scrooser
© iFPE GmbH/scoop id
Bullitt mit Holzbox
© Larry vs Harry
Das E-Bike Elmoto HR-2 Evo kommt aus Stuttgart und ist wahlweise mit einer Höchstgeschwindigkeit von 25 und 45 km/h zu haben. 3.000 Stück wurden seit 2009 verkauft. Im Moment ist es ruhig um die Firma. 2018 soll das E-Bike in einer neuen Version erscheinen.
Der Scrooser aus Dresden ist ein elektrischer Tretroller für Erwachsene, fährt bis zu 25 km/h und ist ab 4.500 Euro zu haben. Neben der Beschleunigung per Lenkergriff bietet das Fahrzeug auch einen sogenannten Impulsantrieb, eine Form der Trittverstärkung, die laut Hersteller im Straßenverkehr jedoch nicht zulässig ist.
Die Cargobikes des Kopenhagener Herstellerduos Larry vs Harry sind vor allem unter dem Produktnamen Bullitt bekannt und stehen in der Tradition des dänischen Long-John-Rads aus den 1920er-Jahren. Das Bullitt zeichnet sich durch seinen leichten und schmalen Rahmen aus und kostet ab ca. 2.400 Euro aufwärts, je nach Ausstattung, elektrisch etwa das Doppelte.
Formensprache
Beim Objekt selbst setzt sich die Tendenz zu formaler Eigenständigkeit und Ausdifferenzierung weiter fort. Das Mountainbike entwickelt sich zu noch höherer formaler Geschlossenheit. Herstellungsverfahren wie das Innenhochdruckumformen erlauben asymmetrische Rahmenbauteile mit optimierten Steifigkeits- und Krafteinleitungseigenschaften. Die Anmutung wird kompakter, der Eindruck eines aus Einzelelementen assemblierten Konstrukts weicht dem einer Monoform aus einem Guss. Bauelemente wie Akkus und Antriebsblöcke werden zunehmend in diese Form integriert. Ähnlich wie beim klassischen Automotive Design gibt es auch hier die Tendenz, insbesondere Kraft, Dynamik und Geschwindigkeit als Wesensmerkmale übermäßig herauszustellen und damit entsprechende Nutzungsimplikationen zu betonen. Das Fahrzeug soll schon im Stand schnell wirken und das Fahrerlebnis auf visueller Ebene vorwegnehmen.
Ein anderer Trend, Bike Packing genannt, zelebriert hingegen das Additive und Assemblierte. Packtaschen, Lederriemen und edle Sättel kontrastieren mit ausgefallenen Rahmenkonstruktionen und technischen Funktionselementen. Doch auch ein derart aus Komponenten zusammengestelltes Fahrzeug kann unter ästhetischen Gesichtspunkten ein abgestimmtes Gesamtbild ergeben.
Akkukonzepte wie die Energy Tube oder der Radnabenmotor Copenhagen Wheel harmonieren in einer offenen systemischen Rahmung von Elementen. Wesenhaftigkeit und Handlungsofferte sind in dieser Ästhetik gleichermaßen verkörpert und eröffnen Freiräume zur Aneignung. Der Electric Cargo Scooter Feddz behandelt den Akku als Gepäck. Er wird zusammen mit möglichen weiteren Lasten vom Rahmen eingefasst und mit Riemen gesichert. Fahrzeugstruktur, technische Elemente und zusätzliche Ausrüstung bilden eine Assemblage. Technische Systeme und Stileigenschaften befinden sich in steter funktionaler und ästhetischer Spannung. Gleiches gilt für die Frage, welche dieser Bestandteile besessen und welche nur genutzt werden. Hier geht es nicht nur um das gestalterische Ausloten dieses Spannungsfeldes, sondern auch um das Neudenken von Objektkategorien, Geschäftsmodellen und Wertschöpfungsketten.
Spieltrieb
Der BMW-C1-Roller, ein mit hohen Kosten in eine Marktlücke hineinkonzipierter, innovativer Hybrid aus Automobil und Motorroller, fand nicht die Marktresonanz, die der Entwicklungsaufwand hätte erwarten lassen. Etwas erfolgreicher startete 2012 der als LEV der Quad-Kategorie konzipierte Renault Twizy. Obwohl das Fahrzeug für die eingeschränkten Nutzungsszenarien, die es ermöglicht, schon relativ groß ist, überzeugt es einerseits mit der Vertrautheit des vierrädrigen Automobils, andererseits mit einer eigenständigen, von der klassischen Monoform abrückenden Optik.
Etwa zeitgleich begannen kuriose und flippige elektrisch getriebene Kleinstfahrzeuge erst vereinzelt, dann immer häufiger im Stadtbild der Metropolen aufzutauchen. Wichtigster Vorreiter war hier der zunächst gewöhnungsbedürftige Segway, an dem sich das vorherrschende Verständnis von Fahrzeugen und Fahrgewohnheit reiben konnte. Die gängige Nutzung für Stadtrundfahrten in Gruppen erwies sich als wenig imageträchtig. Im Hoverboard fand das vom Segway eingeführte Konzept der durch ein Gyroskop stabilisierten elektrischen Fortbewegung auf einer Achse seine konsequente Fortentwicklung im unteren Preissegment. Ab 250 Euro ist dieses massenhaft in China produzierte Spaßgefährt zu haben und landet – dem Preis angemessen – ebenso schnell auf dem Elektroschrott. Verschiedene elektrifizierte Einräder runden die Sparte der lagestabilisierten Segway-Derivate ab. Als Ableger des ewig coolen Skateboard-Sports bietet das elektrische Longboard bei überschaubarem technischem Aufwand die wohl vergleichsweise lässigste Performance.
Dabei ist ein Muster erkennbar, das viele dieser Fahrzeuge verbindet: Sie entstanden nicht als ernsthafte Alternative zu gewohnten Formen von Mobilität, sondern als Spaß- und Sportgerät. Dieser Vorgang ist übertragbar: Während das erwähnte Hoverboard in erster Linie die motorische Koordination auf spielerische Weise herausfordert, bieten andere LEVs dem Benutzer die Möglichkeit, mit ebendieser Leichtigkeit und Gelassenheit auch neue Vorlieben für Mobilität im Alltag zu erkunden. Erleichtert wird dies durch die Verfügbarkeit von Mietkonzepten – durch Nutzen statt Besitzen. In diesem Sinne betreibt LEV-Vorreiter Bosch seit Ende 2016 das Sharing-Start-up Coup, welches moderne Elektroscooter per Smartphone-App vermietet. In Berlin sind inzwischen über Tausend solcher Roller von Bosch und Konkurrent Emmy auf der Straße.
Doch auch gewöhnliche Pedelecs und verschiedene Lastenfahrräder sind über Mietservices in Deutschlands Metropolen zu haben. Das Spektrum der aktuell verfügbaren LEVs umfasst kleine, preiswerte Spaßmobile, konventionelle Fahrradderivate sowie komplexere und für den Personen- und Lastentransport leistungsfähigere Fahrzeuge wie Scooter, Lastenfahrräder, Quads, E-Caddys und andere vierrädrige Fahrzeuge. Coolness und Sportlichkeit der kleineren Fahrzeuge treffen auf leistungsfähige aber wenig imageträchtige größere Elektromobile. Bottom-up- trifft auf Top-down-Entwicklung.
Copenhagen Bike Sharing System
© RAFAA
Copenhagen Bike Sharing System
© RAFAA
Copenhagen Bike Sharing System
© RAFAA
Copenhagen Bike Sharing System
© RAFAA
Wunsch
Kopenhagen ist Weltfahrradstadt und stolz darauf. Die Hälfte der Einwohner fährt mit dem Rad zur Arbeit und das bei jedem Wetter. Um Fahrräder jederzeit verfügbar zu machen und dennoch „unsichtbar“ in das Stadtbild zu integrieren, entwarf der Schweizer Architekt Rafael Schmidt 2011 ein futuristisches Bike Sharing System. Ästhetisch eine zweifelsohne elegante Lösung, die noch dazu durch unterirdische Lagerung auch auf das Kopenhagen-spezifische Problem eingeht, dass insbesondere für Fahrräder die Parkplätze knapp werden.
Danish public bicycle
© wikimedia.org
Wirklichkeit
Für den ganz realen Einsatz in der Stadt waren damals und heute Kompromisse nötig, die zwischen ansehnlicher Form und Praktikabilität rangieren. 1995 etablierte Kopenhagen als erste Großstadt dauerhaft ein System für Leihfahrräder. Diese waren teils werbefinanziert und man konnte sie bis 2012 kostenlos gegen Münzpfand borgen. Zum Schutz gegen Vandalismus waren die Räder besonders robust gestaltet. Dennoch fühlten sich viele Nutzer nicht zu Sorgfalt verpflichtet und es gab viel Schwund.
Row of white rental Go-bikes
© hans engbers/Shutterstock.com
Seit 2013 gibt es einen neuen Typ des Bycykels. Wieder sind die Dänen führend, denn die Räder verfügen heute standardmäßig über Elektroantrieb, Touchpad und GPS-Navigation. Inzwischen wird per Kreditkarte eine Miete fällig, Schwund ist seitdem kein Problem mehr, die Installation des neuen Systems war allerdings so aufwendig, dass die ursprüngliche Betreiberfirma dabei bankrott gegangen ist. Die Nachfolgeorganisation wird von der Stadt finanziert und anders als in anderen Städten sind die Leihräder werbefrei.
Objekt und Kontext
Woran es bei den „leistungsfähigeren“ größeren Fahrzeugen im Vergleich zu den sportlich konnotierten Gefährten oft noch mangelt, sind eine eigenständige Ästhetik und Identität. Das ändert sich langsam. In Metropolen hat sich das elektrifizierte Lastenfahrrad vom Typ Long John (und nicht etwa der Renault Twizy) als identitätsstiftendes Statussymbol durchgesetzt. Es besticht durch eine archetypische und vergleichsweise dynamische Erscheinung. Unter dem Markennamen Bullitt vertreibt das dänische Label Larry vs Harry seit einigen Jahren erfolgreich derartige Lastenräder. Gut gestaltete modulare Anbauteile und Lastenboxen, angeboten von einer Vielzahl von Herstellern, runden das Image eines urbanen Alleskönners ab. Die Benutzung erfordert zudem einiges an Geschick und Gewöhnung. Dieses Können und dessen Anerkennung sind Bestandteil des positiven Images. Die Nutzung eines solchen Rads ist Ausdruck eines Phasenübergangs weg von automobiler Dominanz. Der Stadtraum wird zu einer Spielwiese, auf der unternehmerisch relativ gefahrlos neuartige, leistungsfähige Formen der Fortbewegung erschlossen werden können. Letztlich geht es um die Ausweitung alternativer Fortbewegungsformen aus der Nische hinaus und hin zu neuen Standards.
Nicht immer passen die neuartigen Fahrzeuge zu etablierten Nutzungsumfeldern und Infrastrukturen. An der HTW Dresden wurde im Rahmen eines Designkritik-Projekts das bedingt geländegängige E-Bike Elmoto untersucht. Die pedallose Kreuzung aus Mountainbike und Enduro-Geländemotorrad irritierte zunächst durch ihren hybriden Charakter: Es war mit 45 Stundenkilometern Höchstgeschwindigkeit für die Straße gefühlt zu langsam und zu klein und für den Radweg zu schnell und zu wuchtig. Bei weiteren Tests eröffnete das Zweirad jedoch neue Mobilitätsgewohnheiten, wie etwa die tägliche Fahrt vom dörflichen Umland in die Innenstadt Dresdens. Dabei dienten einerseits Feldwege abseits der Straße als Abkürzung, andererseits konnten Teile der Strecke bequem mit dem E-Bike in der S-Bahn zurückgelegt werden. Auch das Beispiel Elmoto zeigt, dass die Entwicklung neuer Fahrzeuge nicht zwingend von großen Unternehmen kommen muss. Designer sind in Start-ups präsent und treiben eigene Entwicklungen in Kooperationsnetzwerken voran. Die Firma iFPE GmbH brachte 2014 den vom Dresdner Designbüro scoop id gestalteten elektrischen Roller Scrooser auf den Markt. Er stellt eine verkehrstaugliche Interpretation des klassischen Kinderrollers dar.
Dass es ganz ohne Spielregeln nicht geht, zeigt ein aktuelles Beispiel aus China. Pendler nutzen die seit rund einem Jahr von mehreren Start-ups preiswert und massenhaft angebotenen Leihfahrräder auf dem sogenannten „letzten Kilometer“ bis zur ÖPNV-Station. Fahrradberge vor den Metrostationen Pekings sind die Folge. Die Antizipation und vorsichtige Auslotung solcher nicht vorhersehbarer Effekte sind Bestandteil des Entwicklungsprozesses.
Helge Oder ist gelernter Goldschmied und hat Produktgestaltung in Dresden studiert. Von 2010 bis 2014 lehrte er als künstlerischer Mitarbeiter an der Bauhaus-Universität Weimar im Bereich Material und Umwelt. In seinem Promotionsvorhaben an der BUW erforscht er anhand experimenteller Innovationsprojekte die Autonomie des Entwerfens in offenen Entwicklungsprozessen. Begleitet wird seine Entwurfs- und Forschungstätigkeit durch Lehre, Workshops und publizistische Tätigkeit rund um das Thema Design und Innovation. 2014 bis 2016 war er Gastprofessor für Designtheorie an der HTW Dresden.
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